Interviews
Zwischen Ästhetik und Berufsethik | von Roberta Chionne
Der Architekt und Dozent Sergey Skuratov ist Autor von ca. 150 Projekten, von denen mehr als 40 realisiert wurden, und Gewinner von mehr als 30 Auszeichnungen und Wettbewerben im In- und Ausland, darunter der 21st Century Space von 1987 und der Wettbewerb für die Restauration von Samarkand 1991. Sein Büro in Moskau gründete er 2002, auf dem Höhepunkt des Immobilienbooms, den die neue Wirtschaft kapitalistischen Stils und der Aufstieg der Mittelschicht ausgelöst hatten.
Wie entstand Sergey Skuratov Architects und welchen planerischen Ansatz verfolgen Sie?
Bei der Gründung meines Büros war ich gerade 47 Jahre alt geworden; ich hatte viele Jahre lang als Chefarchitekt bei Sergey Kisselev & Partners Erfahrung sammeln können, wo ich für den Bau von sechs Gebäuden verantwortlich zeichnete. Obgleich ich nur kreativer Leiter und nicht Miteigentümer war, konnte ich dort wichtige Beziehungen zu verschiedenen erfolgreichen Investoren und zur Architekturverwaltung der Stadt aufbauen. Kaum hatte ich mein eigenes Büro eröffnet, erhielt ich verschiedene Aufträge und Einladungen zur Teilnahme an nichtoffenen Wettbewerben. Sergey Skuratov Architects bestand anfangs aus nur vier Personen, darunter einige meiner ehemaligen Studenten am Moskauer Architekturinstitut. Der planerische Ansatz unseres Architekturbüros verfolgte das Ziel der ‘Nichtbeschädigung der Stadt’ und beruhte auf dem, was ich schon immer an meinem Beruf geliebt und geschätzt habe. Vor allem wollte ich Qualitätsarbeit durch Anfertigung ansprechender und überzeugender Zeichnungen, Ansichten, Layouts und Skizzen bieten. Sachgerechtheit und Genauigkeit der urbanen Lösung, Helligkeit, Integrität der Komposition von Volumen und Räumlichkeit, zurückhaltender Einsatz von Ausdrucksmitteln, Klarheit und Schlichtheit gehören für uns zu den wichtigsten Werten. Das Büro hat heute 65 Mitarbeiter, die gleichzeitig an einem Dutzend hochkomplexer Projekte arbeiten, aber meine Beteiligung an jedem Projekt und die Prinzipien, die meiner Arbeit zugrunde liegen, sind in diesen 17 Jahren unverändert geblieben.
Sie wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Welche Ihrer Projekte halten Sie für die repräsentativsten und aus welchem Grund?
Alle Projekte, an denen ich gearbeitet habe, sind für mich sehr wichtig. Zu den signifikantesten gehören aber sicherlich der Wohnkomplex Copper House (2004), das Geschäftszentrum Danilovsky Fort (2008), der Wohnkomplex Art House (2012), der multifunktionelle Wolkenkratzer auf der Mosfilmovskaya-Straße(2012), der zu den 5 bestplatzierten Projekten des Emporis Skyscraper Award gehörte, das Wohngebäude Skuratov House (2014), der Wohn- und Verwaltungskomplex Egodom (2015) und schließlich das längste und schwierigste Projekt, der multifunktionelle öffentliche Gebäudekomplex Garden Quarters (2014–2021), mit dem wir uns seit 13 Jahren befassen. Es ist ein Großprojekt auf einer Fläche von 16 ha im Zentrum von Moskau, das 33 Wohngebäude, eine Schule, 4 Kindergärten, große, der Öffentlichkeit zugängliche Freiflächen und Grünanlagen, sowie einen unterirdischen Multifunktionsbereich mit 3 Ebenen umfasst. Zur Zeit planen wir große multifunktionale Komplexe in verschiedenen Bereichen Moskaus, auch in der Nähe des Kremls, darunter das Projekt für das größte Wohngebäude Europas, ein 405 m hoher Wolkenkratzer.
Welches sind die wichtigsten aktuellen Trends in der russischen Architektur und welche Mission hat ein Architekt heutzutage?
Der wichtigste Trend ist, mit Europa und der modernen Architektur Schritt zu halten, gleichzeitig aber auch mutige technischen Lösungen einzusetzen, die Globalisierung und lokale Identität verbinden. Forschung, Analyse, Prognose für die Entwicklung eines bestimmten zeitlichen und räumlichen Bereichs, Dialog mit den Nutzern und Bewahrung des historischen Erbes sind weit verbreitet; aktuelle Trendthemen sind hochwertiges öffentliches Bauwesen, Freizeitflächen, Parks und Flussufer. Viele Unternehmer beteiligen sich an der Umwandlung ehemaliger Industrieanlagen in multifunktionale Komplexe mit öffentlichen und Wohnbauten; ganz allgemein besteht in Moskau eine Tendenz zu urbanen Großprojekten.
Welche Mission hat ein Architekt? Bauen! Aber ein Architekt muss im 21. Jahrhundert zugleich auch Politiker, sozialer Aktivist, Umwelt- und Denkmalschützer und vieles mehr sein. Wir müssen unterschiedliche Rollen übernehmen und verschiedenste Fähigkeiten an den Tag legen wie z.B. in der Öffentlichkeit zu reden oder einen Konsens herzustellen. Das Wachstum der Städte und die Entstehung von Megastädten gerät in Widerstreit mit der Umwelt und das Hauptproblem ist eine menschenwürdige Gestaltung der Räume. Berufsethische Probleme sind nicht weniger wichtig als ästhetische Probleme.
In einem Interview in ArchDaily haben Sie gesagt, dass Sie ein Gebäude „as a living thing”, als etwas Lebendiges, ansehen. Werkstoffe spielen eine wichtige Rolle bei der achtsamen Gestaltung von Gebäuden. Welche benutzen Sie hauptsächlich?
Werkstoffe sind grundlegend für die Umsetzung der so genannten „sensiblen Architektur”. Von der akkuraten, richtigen Auswahl des Werkstoffes hängt nicht nur der Erfolg des Projektes, sondern auch die Zukunft des gesamten Gebäudes ab. Der Werkstoff drückt dem Gebäude seinen Stempel auf, formt es; die Eigenschaften des jeweiligen Werkstoffs müssen korrekt verstanden und eingesetzt werden. Die Verwendung von Kupfer beispielsweise macht Transformation, Sinnlichkeit, Schwerelosigkeit und Feinfühligkeit erforderlich. Ist dagegen Verlässlichkeit, visuelle Komplexität, Plastizität und Wärme erforderlich, setzt man auf Ziegelstein. Klinker ist der bevorzugte Werkstoff, wenn eine plastische Oberfläche im Wechsel mit Ziegelstein erreicht werden soll. Möchte man Wärme und technische Effizienz kombinieren, wählt man Keramik. Naturstein ist edler, fühlt sich aber weniger warm und angenehm an. Meiner Ansicht nach sind Häuser aus Ziegelstein energieintensiver, sie bereichern und „wärmen” ihr Umfeld. Zu meinen bevorzugten Werkstoffen gehören Ziegelstein und Kupfer, wie man an meinen Gebäuden sehen kann.
Haben Sie schon einmal Keramik verwendet? Für welche Eigenschaften ist die italienische Keramik in Russland bekannt?
Natürlich, ich habe Keramik schon oft verwendet. Es ist ein außerordentlicher Werkstoff, was würde ich ohne ihn machen? Die Hälfte der Wände in meinem Büro sind aus superfeinem Granit und der Boden hat einen Keramikbelag in schlichter, Beton ähnelnder Farbe, die aufgrund ihrer Eigenschaften ideal für diese Räume sind. Für die Innengestaltung der Gemeinschaftsbereiche meiner Wohnkomplexe wurde größtenteils italienische Keramik verwendet. Es sind Keramikfliesen mit matten Oberflächen in dezenten Farben. Maßhaltigkeit, stimmige Geometrie und Farbvielfalt sind mir wichtig und auch Keramikfliesen weisen wie Naturstein oder Ziegel Farbunterschiede auf. Eine der wichtigsten Eigenschaften einer Keramikfliese ist die Oberflächenhaptik, sie muss sich angenehm anfühlen, wenn man sie in der Hand hält. In der letzten Zeit geht der Trend zu großformatigen Keramikplatten, das finde ich großartig, denn so lassen sich Innenwände mit einer komplett anderen Perspektive herstellen.
Wie sehen Sie die heutige Beziehung zwischen Werkstoffen und Projekt? Und wie bewerten Sie den derzeitigen Trend bei Keramikmaterial, andere Werkstoffe zu imitieren?
Ich halte das für eine wichtige Zusatzfunktion von Keramik, neben ihrer Geometrie und den Proportionen. Wichtige Eigenschaften sind auch die Helligkeit und Farbe sowie Zweckmäßigkeit und Vielseitigkeit. Zu diesen Aspekten kommen technischer Komfort und Leistungsmerkmale hinzu. In letzter Zeit sehe ich auf Bauausstellungen sehr viele neue Materialien, darunter auch Keramik, die andere Werkstoffe imitieren. Mir persönlich gefallen Imitationen weniger gut, aber wenn die Nachfrage danach besteht, gibt es natürlich auch ein entsprechendes Angebot. Es gibt Situationen, in denen mit einem bestimmten Werkstoff nicht die geeigneten Qualitätsstandards erreicht werden können. Ich denke da beispielsweise an Beton oder Naturstein, an Holz oder Metall. Und genau dann ist Keramik hilfreich. Manchmal denkt man an Lösungen mit exotischen Werkstoffe, die sich aber nicht realisieren lassen, weil sie verschmutzen, unbrauchbar werden oder nicht die richtigen Abmessungen haben. Auch dann ist Keramik eine Hilfe, weil sie die Möglichkeit bietet, eine rostige Metalloberfläche, einen großformatigen norwegischen Schiefer oder eine alte texanische Holzplatte nachzubilden. Neue Werkstoffe bieten neue kreative Möglichkeiten bei der Gestaltung von Räumen, das war schon immer so. Daher schätze ich natürlich die kontinuierliche Forschungsarbeit zu innovativen Werkstoffen, die zur Weiterentwicklung der Architektur beitragen.
Mai 2019