Wie Moby Dick | von Alessandra Coppa

Beim Öffnen der Website von Atelier(s) Alfonso Femia werden ein Wal und ein Zitat aus Moby Dick gezeigt. Warum dieses Logo? Auch bei der Beschreibung des Projekts des neuen Firmensitzes von BNL-BNP Paribas in Rom, wo Sie ein wunderbares Keramikelement (Snake) entworfen haben, nehmen Sie darauf Bezug: „Die Idee war die, eine vague mit veränderlicher Geometrie vorzuschlagen, die in der Lage sei, mit dem Wechsel des Lichts des römischen Himmels die Farbe zu ändern. Das Ziel war, das Licht in mehr als 35 Meter Tiefe in den Bauch des Wals zu bringen.“

Der Wal ist der Inbegriff für die Bedeutungen des Studios: Er steht für den Kontrast, ein Säugetier, das im Meer lebt, still in der Tiefe verweilt und nur auftaucht, wenn es angemessen oder notwendig ist. Er spiegelt unsere Art wider, uns mit der Architektur zu befassen, in die Tiefe zu gehen, still zu bleiben und erst aufzutauchen, wenn wir wirklich etwas zu sagen haben.
Und dann ist da das Thema des Wals, das mit tausenden Phantasien, Gedanken, Klängen und Vibrationen verbunden wird. Er ist auch ein Symbol für die Selbstherausforderung, dafür, nie aufzugeben.
Die Beziehung der Intimität des Gedankens entsteht zum Beispiel im Gebäude des Hauptsitzes der BNL/BNP in Rom, in dem die Keramik der Transparenz der Hülle anhand des Widerspiegelns von Reflexen, die die Wahrnehmung ständig wandeln und das Licht in eine Tiefe von bis zu fünfzig Metern bringen, zuzwinkert und damit interagiert.
Auch in der Dallara Motorsport Academy in Varano De’ Melegari in der Nähe von Parma sind die Kamine der in der Mitte der Struktur einverleibten, aber von jedem Punkt des Gebäudes aus sichtbaren Schulungsräume mit diamantförmiger Keramik verkleidet, wodurch außergewöhnliche geheime und mysteriöse Lichtspiele entstehen.

 

In Ihren Projekten ist es offen ersichtlich, wie Sie das Keramikmaterial auf komplexe, symbolische und nicht nur ästhetische Weise einsetzen, als wäre es die „Grammatik“ einer für die Erzählung des Projekts verwendeten Sprache. Können Sie uns einige Beispiele nennen, wie es Ihnen gelingt, diese Erzählungen zu schaffen, zum Beispiel bei der Umsetzung der „Rahmen in Asnières-sur-Seine“ mit Casalgrande Padana? In diesem Fall ist der Kern des Projekts auch die erneute Bestätigung des Dekorelements anhand der Keramik und von in sechs Engeln bestehenden Ornamenten.

Wir verfolgen mit unserer Art, mit der Keramik, aber auch anderen Materialien zu arbeiten, nicht das Ziel der Ausnahme, des Wegwerfartikels für eine spezifische Gelegenheit, wir möchten mit den Firmen, dem Material und somit mit den Auftraggebern kommunizieren, um zu erneuern und weiterzuentwickeln und so den Ansatz an das Produkt im Katalog zu ändern.
Diese Denkweise veranlasst uns, das Projekt mit kritischem Geist zu analysieren, und wenn es uns nicht gelingt, ein Element mit ausreichender Kongruenz mit der architektonischen Ausdruckskraft und den anderen für uns wesentlichen Parametern zu finden, entwickeln wir eine spezielle Forschung und das Projekt wird zum Anlass, um ein neues Produkt oder besser gesagt eine neue Auffassung des Materials hervorzubringen.
Diesen Weg sind wir auch bei den Rahmen von I giardini di Gabriel in den Wohnhäusern von Asnières-sur-Seine gemeinsam mit Danilo Trogu und Casalgrande Padana gegangen. Das Ergebnis war ein in seiner künstlerischen und architektonischen Ausdruckskraft einzigartiges Produkt, das mit einer Firma entwickelt wurde, die die Ausarbeitung eines technologischen Handwerkssystems auf hohem Niveau ermöglichte. Die Rahmen um die Fenster laden zum Eintreten ein und die Fenster werden in ihrer intimen Dimension nicht zur Trennung, sondern zur Schwelle zum Himmel. Im Projekt der Docks hingegen ist die Keramik das erzählende Element und das Leitmotiv bei der Planung. Mit Danilo Trogu haben wir ein „mediterranes Bestiarium“ entwickelt, das die Docks belebt.

 

Quartiere Bois Sauvage, Evry, Francia (copyright Stefano Anzini, image courtesy of AF517)
Residenze Urbagreen, Île-de-France (copyright Stefano Anzini, image courtesy of AF517)
Living in the blue, Milano (copyright Stefano Anzini, image courtesy of AF517)
Sede BNL-BNP Paribas, Roma (copyright Luc Boegly, image courtesy of AF517)
Sede BNL-BNP Paribas, Roma (copyright Stefano Anzini, image courtesy of AF517)
Il cielo d’Asnières-sur-Seine, Parigi (copyright Luc Boegly, image courtesy of AF517)
Les Docks di Marsiglia, Francia (copyright Luc Boegly, image courtesy of AF517)
Les Docks di Marsiglia, Francia (copyright Luc Boegly, image courtesy of AF517)
IULM, Istituto Universitario Lingue Moderne, Milano (copyright Luc Boegly, image courtesy of AF517))
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Was bedeutet „dem Keramikmaterial gemäß denken“?

Die Forschung zum Thema Keramik ist eine Charakteristik unserer Planung, die im Lauf der Jahre entwickelt und perfektioniert wurde: Vom Dialog mit dem Licht und der Umgebung ausgehend bringt die Keramik die Fähigkeit zum Ausdruck, zu sprechen und vom Gebäude zu erzählen. Die Keramik eignet sich ihren Wert als Material und ihre Poesie und narrative Fähigkeit, „dem Keramikmaterial gemäß zu denken” wieder an.
Bei jedem Projekt überlegen wir, wie das Material die auf den Ort, seine Geschichte, seine Zeit und seine Funktion bezogene architektonische Idee unter Berücksichtigung der ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit des Projekts zum Ausdruck bringen kann.
Dieser Inspiration sind wir in Romainville, einem Wohnviertel an der Pariser Gürtellinie, gefolgt.
Jede Front weist eine Besonderheit auf und erzählt das Projekt auf eine unterschiedliche Art. In Richtung Norden weist die Eingangsfassade vom Hauptkomplex eine Verkleidung aus bronzefarbener, diamantförmiger Keramik auf, die das Licht und den Pariser Himmel reflektiert. In Richtung Westen verläuft ein den Bewohnern zugänglicher Weg durch die Bäume mit Blick auf eine durch hervorspringende Balkone, die durch ein vertikales Netz aus Holz geschützt werden, bereicherte Fassade. Die auf eine grüne Hügellandschaft zeigende gegenüberliegende Ostfront zeichnet sich durch eine kompaktere Front aus, die ausgehoben wurde, um Loggias zu schaffen. Der Haupteingang liegt in Richtung Süden, von hier aus wird das Eingangsfoyer betreten, ein geräumiger Mehrzweckraum mit Glaswänden.

 

Welche Rolle spielt das Ornament bei der Stärkung einer neuen städtischen Identität allgemein und insbesondere bei Ihren Projekten für Mailand wie IULM6 (ein mit den Fliesen Diamante Boa verkleideter organischer Körper), Living in the blue in Lambrate (aus Feinsteinzeug) und beim kommenden Milano 3.0, bei dem die Fassade eine neue, moderne dreidimensionale Verkleidung erhält, die in den bestehenden Kontext eingefügt wurde?

Ich würde nicht unbedingt von der Rolle des Ornaments sprechen, für uns ist es vor allem wichtig, festzulegen, wie das Material vom Projekt oder einigen Teilen davon erzählen kann.
Das Material ist die beschreibende Komponente und wird je nach den Momenten zu einem Kontrapunkt oder Akzent des architektonischen Körpers in seiner Gesamtheit.
Bei den Wohnhäusern in Lambrate in Mailand, einem Beispiel für ein großzügiges Social Housing, das die Verantwortung dafür übernimmt, den Wohnorten eine neue Identität zu geben, ist die blaue Keramik eine kostbare, strahlende Präsenz, die in einer ausgewogenen Erzählung aus Materialien und Farben auf die Geländer und die verputzte Oberfläche trifft.
Beim Gebäude der IULM dient die schillernde grüne Keramik der Verkleidung des Volumens des großen Auditoriums, einem Kontrapunkt zur Dimension.
Beim noch in Bau befindlichen Milano 3.0 ist das Ziel, unerwartete Blickwinkel zu schaffen, indem der Weg des Blicks anhand von Lageverschiebungen fragmentiert wird. Die Wahl, die Verkleidung der Fassade mit Portionen aus diamantförmiger Keramik zu kombinierten, trägt dazu bei, den Dialog zwischen den neuen Gebäuden und denen des bestehenden Blocks mit einer anregenden Bewegungssimulierung zu verstärken. Die Keramik ist eine Präsenz, die sich zu den verschiedenen Tageszeiten und an den verschiedenen Tagen des Jahres ändert und zur Interaktion zwischen den Gebäuden, dem Ort und den Menschen, die darin wohnen, beiträgt und eine Landschaft in der Landschaft hervorbringt.

 

Die Pandemie hat die Anfälligkeit und Unangemessenheit in Sachen Raum, Orten und Funktionen zu Tage gebracht: Die Schulen, Wohnungen und Gemeinschaftsbereiche haben nicht funktioniert. Wie kann das Keramikmaterial diesen Bedürfnissen gerecht werden?

Wir lassen gerade eine historische Periode hinter uns, die sich sehr auf die Individualität der Handlungen und Prozesse konzentrierte; ich hoffe, dass wir am Anfang einer Phase stehen, in der der ethische Wert der Gemeinschaft die Menschen als Teil der Kollektivität unterstützt.
Es geht nicht nur um einen Paradigmenwechsel, sondern darum, ein anderes kulturelles Infrastrukturmodell auszuarbeiten, das im spezifischen Bereich der architektonischen Planung in Entscheidungen konkret umgesetzt wird, die am Wohlstand der Gemeinschaft in ihrer Ganzheit und der einzelnen Individuen, aus denen sie besteht, ausgerichtet ist. Ein Umstieg, der nicht selbstverständlich ist, weil er der Architektur wieder eine soziale und politische Verantwortung zuweist, die im Lauf der Jahre nach und nach verloren gegangen ist. Wir müssen wieder zu denken beginnen, dass jedes Projekt eine öffentliche Bedeutung haben muss.
Ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren anhand einer Forschung, eines progressiven Werdegangs zwischen dem Material und der Konfrontation mit den Vorschriften und Regeln an der Untersuchung der Keramik. Dadurch entwickle ich innovative Ideen, die aber industrielle Zwecke haben und somit allen zugutekommen, Ideen, die ihren Ausgang vom künstlerischen und handwerklichen Experimentieren in der Architektur nehmen.

 


 

Atelier(s) Alfonso Femia ist ein internationales Architekturstudio mit Sitz in Genua, Mailand und Paris. Die in mehr als 25 Jahren Planungstätigkeit gesammelte und in allen Eingriffsbereichen entwickelte Erfahrung spiegelt sich in der Tiefgründigkeit des Ansatzes an die sensibleren Themen der Stadt und des Gebiets wider.

Der Gründer des Atelier(s) ist Alfonso Femia: 1995 schuf er als Mitgründer 5+1, das 2005 in 5+1AA verwandelt wurde, dessen Bezeichnung danach 2017 in Atelier(s) Alfonso Femia geändert wurde.

Zu den letzten Projekten zählen der neue Firmensitz von Vimar in Marostica, die Dallara Academy in Parma, der neue Sitz der Gruppe BNL-BNP Paribas in Rom, Les Docks de Marseille, The Corner in Mailand und eine soziale Wohnanlage in Mailand.

In den Jahren 2020/2021 gewann es in Italien die Ausschreibung für die Sanierung und Neugestaltung der ersten Münzstätte Italiens (Zecca d’Italia) in Rom, für das Terminal Porto Corsini in Ravenna, für die Cittadella della Cultura in Messina, für das Terminal von Porto Marghera-Venezia, für den Flughafen Salerno und im Ausland für den Universitätscampus in Annecy und in Avignon in Frankreich.

 

Mai 2022