Museum Bertozzi & Casoni | von Simona Malagoli

Artikel veröffentlicht in: "Ein Museum für zeitgenössische Keramikkunst in Sassuolo"

Raumeinnehmende Kunstwerke … leerstehende und verlassene Räume auf der Suche nach einer neuen Identität … ein Umfeld, das neugierig auf Keramik in einmal anderer Form ist … Verborgene Erwartungen, verschwiegene Wünsche, die mit Hingabe und Überzeugung aufgenommen und verwirklicht wurden und nun „in Realität verwandelte Träume“ sind.

Franco Stefani – Gründer und Präsident der System Gruppe ist – ist leidenschaftlicher Bürger von Sassuolo und hat diese Idee gemeinsam mit dem Studio Pincelli & Associati entwickelt. Das Ergebnis ist eine akribische Restaurierung und Sanierung der Herzoglichen Stallungen, Cavallerizza Ducale, die nach langer Vernachlässigung wieder zu neuem Leben mit einer kulturellen und sozialen Funktion erweckt wurden.

Ziel war es, dem suggestiven Standort wieder seine wohlverdiente Würde und Pracht zu verleihen. Zu Zeiten des Herzogtums waren die nur wenige Schritte vom Herzogspalast entfernten Stallungen Teil des Estensischen Lustwandels. Heute fließen Antikes und Modernes ineinander über: Die alten, geschichtsträchtigen Mauern sind nun Heimat für Keramik als Zeitzeuge der lokalen Kultur, die in Form erlesener Kunstwerke ausgestellt sind und mit modernen Verfahren und Werkstoffen unterstützt von Industrieprozessen und heutiger Technik erschaffen wurden. Die bürgernahen Werke, die als Geschenk für Sassuolo und seine Bewohner verstanden sein wollen, streben eine Auseinandersetzung und Wiedererkennung an und verleihen einem ehrgeizigem und gleichzeitig einzigartigem Projekt eine konkrete und von allen nutzbare Struktur.

Das Keramikmuseum Bertozzi & Casoni erwartet in der Cavallerizza Ducale in Sassuolo, die von einem imposanten Satteldach aus Holz mit 23 Trägern überdacht ist. In der Halle im Erdgeschoss sind die ausgesuchten Kreationen von Giampaolo Bertozzi und Stefano dal Monte Casoni ausgestellt. Die beiden international renommierten Künstler aus der Romagna zeigen wie Kunst schrittgleich mit Innovation geht, wie akkurate Details einhergehen mit technischer Perfektion. In ihrer 30jährigen Karriere haben ihre künstlerischen Studien zu Keramikmaterial zu einer eigenen Ausdrucksform und Sprache geführt. Bertozzi & Casoni überführen Keramik in moderne, zeitgenössische Kunst mit einer Kombination handwerklicher Elemente und der Erforschung neuer Möglichkeiten moderner Industrieverfahren.

In ihren Werken wird Keramik zu einem mimetischen Material, das mit unglaublicher Wirkung echt wirkende Körper und unterschiedlichste Werkstoffe nachstellt. Der Beobachter ist zunächst befremdet und skeptisch und mag ohne die Werke zu berühren seinen Augen nicht glauben. Man könnte von formalem Hyperrealismus dieser Exponate, Gegenstände, Überreste, Tiere, Zeitzeugen der Vergangenheit sprechen, wenn in der Zusammenstellung und Anpassung der Skulpturen und Installationen nicht jedes Teil eine neue Bedeutung annehmen würde, eine neue expressive Vitalität mit der Darstellung der Laster und Tugenden der zeitgenössischen Gesellschaft. Also keine allgemeine, vernünftige und anerkannte Realität, sondern die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen täglicher Erlebnisse.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts änderten die Künstler ihren Ansatz und schwenkten von der malerischen Virtuosität in Werken wie Scegli il Paradiso (Wähle das Paradies) von 1997, die noch zur Epoche der bemalten Majolika gehören, zu einer möglichst objektiven Darstellung ihrer Modelle. Materialexperimente und der Einsatz neuer ultra-moderner Technologie trug dazu bei, dass die Werke eine stärkere physische Präsenz haben. Die bevorzugten Themen sind Eitelkeit und Sterblichkeit, die in Werken wie Avanzi, Ossobello, Madonna scheletrita, Sedia elettrica con farfalle, Architettura Design, Resistenza 2 phantasievolle Verwandlungen erleben. Die objektive, formale Darstellung trennt eine spezielle zeitliche Zuordnung und trägt zu einer surrealen Atmosphäre der Komposition bei. In der „Kontemplation der Gegenwart“ wird die Attraktion für das Flüchtige, Transitorische und in Auflösung Begriffene zu einer international anerkannten Ikone eines, nicht nur zeitgenössischen, menschlichen Zustandes.

Die Werke von Bertozzi & Casoni reproduzieren mit ihrer besessenen Mimetik das Vorhandene, aber in einer Form, die anders als das Selbst und voller versteckter Symbole, ironischer Täuschungen und offensichtlichen Widersprüche ist. Es handelt sich um Werke, die zu einer individuellen Reflektion anregen und gleichzeitig fähig sind, sich der Konfrontation zu stellen: „Man kann nicht ewig rebellisch sein, entweder akzeptiert man einen Dialog oder man stirbt“, erklären die Künstler. Diese Aussage findet in der Ausstellung Galileo Chini – Dialoghi d’Arte im Museum Bertozzi & Casoni einen konkreten Ansatz. Obwohl Arbeiten unterschiedlicher Künstler aus verschiedenen Jahrhunderten nebeneinander stehen, sind Affinitäten subtil oder offensichtlich wahrnehmbar.

Am vergangenen 14. Oktober stellte die Ausstellung der Keramikwerke von Galileo Chini und ihre unmittelbare Gegenüberstellung mit Ausstellungsstücken des Museums den Auftakt für eine Reihe zeitgenössischer Ausstellungen in der Cavallerizza Ducale von Sassuolo dar. Ziel ist es, in der Moderne und der Gleichzeitigkeit jene Protagonisten und Momente hervorzuheben, die eine Bindung zu den expressiven Ergebnissen und künstlerischen Zielen von Bertozzi & Casoni haben. „Wir stehen vor einem innovativen Projekt, in dem ungeschriebene Regeln auf der Basis eines Dialogs zwischen Kunst und Wissenschaft auf kultureller Ebene geteilt werden. Flächen werden so zu einem privilegierten Observatorium, in dem Keramik die unangefochtene Protagonistin ist“, sagt Franco Stefani stolz.

Eine ausgesuchte Reise, welche den enormen Reichtum an Werken und Inhalten bestätigt, die bereits vorhanden und weit entfernt davon sind, sich selbst zu genügen. Sie zeigen wonach Sassuolo nach der Entstehung dieses „Ortes ungewöhnlicher Kultur“ streben kann, wo, so der Gründer, die „Kunst des Schaffens“ erzählt wird.

 

 

November 2018