Interviews
Bauen zum Wohl der Allgemeinheit | von Alessandra Coppa
Der Projektansatz von Pia Durisch und Aldo Nolli zeichnet sich durch seine planerische Kohärenz aus, der Schwerpunkt liegt auf gemeinnützigen Projekten und Stadtarchitektur, wie schon in den ersten Arbeiten deutlich wird: vom Haus für einen Bildhauer in Mendrisio (1998) – einem mittelalterlichen Gebäude, das in seinen Ursprungszustand zurückgebracht wurde, wofür sämtliche Anbauten durch einen radikalen Eingriff entfernt und eine neue Konstruktion aus Sichtbeton eingefügt wurde – bis zum MaxMuseo in Chiasso, das die Reurbanisierung einer Industriebrache, ein seit Jahren leer stehender Garagenbereich im Stadtzentrum gegenüber dem Theater-Kino, vorsah.
Ihre ersten Erfahrungen konnten die beiden Architekten, die sich als Studenten an der ETH in Zürich kennenlernten, 1985 im Architekturbüro von Santiago Calatrava sammeln, ergänzt durch die Arbeit im Büro von Giancarlo Durisch in Lugano. 1993 gründeten sie ihr eigenes Architekturbüro in Riva San Vitale.
Wie entstand Ihr Studio?
Durisch + Nolli ist aus der engen Synergie zwischen Pia Durisch und mir entstanden, die seit mehr als 30 Jahren besteht. Unser professioneller Lebenslauf stimmt überein, wir haben die gleiche akademische Ausbildung und teilen unser Berufs- und Privatleben. Wir betreuen alle Projekte des Architekturbüros zusammen. Wir sind auch in der Lehre gemeinsam tätig. Wir sehen das als eine persönliche Bereicherung an, die es uns ermöglicht, zusammen mit den Studenten unsere architektonischen Überlegungen zu entwickeln und dabei den jüngeren Generationen unsere professionelle Kompetenz zur Verfügung zu stellen. Wir engagieren uns seit Jahren in beruflichen und kulturellen Fachverbänden für den Wettbewerb als meritokratisches Instrument und für die Verbreitung der Baukultur.
Wie könnten man Ihren Planungsansatz beschreiben?
In unserer Arbeit gibt es einen unentwegten dialektischen Austausch, der zu tieferem Verständnis und besserer Motivation unserer gemeinsamen Planungsarbeit führt. Unterschiedliche Ideen, die sich ergänzen, verschmelzen und zur Ausgeglichenheit des Projektes beitragen. Wir versuchen, uns mit den grundlegenden Fakten unseres Territoriums, unserer Gesellschaft und unserer Kultur auseinanderzusetzen. In dieser Hinsicht ist der Beruf des Architekten äußerst reizvoll. Die Idee „etwas zu konstruieren“, etwas Nützliches und Nachhaltiges für die Gesellschaft zu erschaffen, ist ein sinnvolles Konzept, das ein hohes Maß an Befriedigung bietet. Ein wichtiges Element unseres Architekturansatzes ist, durch gemeinnützige Bauprojekte zum Gemeinwohl beizutragen, in der Annahme, dass ein gutes Projekt das Leben der Menschen verbessern kann.
Eine Stadt ist die höchste Form der menschlichen Entwicklung, weil sie den Willen zum zivilen Zusammenleben in einer organisierten Gemeinschaft ausdrückt, indem sie sich mit öffentlichen, gemeinnützigen Infrastrukturen ausstattet. Für uns ist der Bau einer Stadt in der langfristigen Perspektive äußerst faszinierend. Wir sind davon überzeugt, dass man mit einem guten Architekturprojekt komplexe Situationen lösen und Orten eine Identität geben kann, die bisher keine hatten, ganz gleich, ob es sich um Industriebrachen oder stark wachsende Stadtrandgebiete handelt.
Wir setzen uns mit allen Baudisziplinen auseinander, um eine globale, vollständige Vision des Projekts zu erhalten und alle seine Aspekte zu steuern. Nachhaltigkeit ist ein Leitgedanke unserer Architektur, dessen Bedeutung immer mehr zunimmt, weil die drastische Verringerung des Energieverbrauchs und der Emissionen unerlässlich ist.
Viele Ihrer Projekte wurden in der Schweiz im Kanton Tessin realisiert: In welcher Beziehung stehen sie zum Standort und zu den lokalen Architekturtraditionen?
Unsere Architektur ist aufs Engste mit dem Ort verbunden, an dem sie entsteht; die Kenntnis der örtlichen Kultur ist eine Grundvoraussetzung. Gleichzeitig ist ein Architekt immer auf der Suche nach etwas Neuem. Die Dinge mit frischem Blick sehen zu können, ohne Vorurteile und mit der für Kinder typischen Begeisterung ist eine wichtige Ergänzung von Wissen und Kompetenz, die wir im Laufe der Zeit erworben haben. Dieses angesammelte Wissen umfasst auch die lokalen Bautraditionen; für das Tessin bedeutet es, die ländliche Kultur der Alpen, der Seen und des Flachlandes, aber auch die Meister aus der Region der Voralpenseen wie Borromini, Fontana und Maderno zu kennen. Gleichermaßen wichtig für unsere Entwicklung war die Tessiner Architekturschule „Tendenza“, die die internationale Architekturkultur zu Beginn der 70er Jahre beeinflusste und zu deren renommiertesten Exponenten Mario Botta, Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi und Livio Vacchini gehören. Unsere Architektur hat sich aber aus der Abgrenzung zur „Tendenza“ entwickelt, die wir jedoch, zusammen mit vielen anderen Einflüssen, durchaus assimiliert haben.
Das Kulturzentrum in Chiasso mit dem MaxMuseo und Spazio Officina von 2005 schafft mitten im Stadtzentrum einen „urbanen Ort“, den es vorher nicht gab. Wie haben Sie dieses Projekt entwickelt?
Das Projekt in Chiasso ist ein ganzheitliches Projekt, in dem unsere Aufgabe weit über die eines Architekten hinausging. Der Gleichzeitigkeit vieler Faktoren und deren zufälligem Aufeinandertreffen verdankt sich die Entstehung dieses Projektes. Aoi Huber, die Witwe des Grafikers Max Huber, Protagonist der Mailänder Grafikszene von den 40er bis zu den 70er Jahren, wollte ein Max gewidmetes Archiv-Museum bauen. Die Mittel reichten aber nicht dafür aus, um auch ein Gelände zu erwerben. Wir hatten die Idee, den Bürgermeister zu kontaktieren, der sich durch seinen Einsatz für die kulturelle Aufwertung der Stadt hervorgetan hatte. Wir baten ihn um die kostenlose Überlassung eines schadstoffbelasteten ehemaligen Industriestandortes in zentraler Position in der Nähe des Schulzentrums. So kam ein Bodensanierungs- und Stadterneuerungsprozess in Gang, durch den mit wenigen finanziellen Mitteln nicht nur das MaxMuseo entstand, sondern auch ein Kulturzentrum, das heute das Theater-Kino, den Spazio Officina, eine Mehrzweckhalle und weitere Außenräume umfasst, die gemeinsam vom Kulturzentrum und den Schulen genutzt werden. Ausgehend von einem kleinen Auftrag und bescheidenen wirtschaftlichen Mitteln konnte durch persönliches Engagement und die Förderung von Synergien zwischen öffentlichen und privaten Investoren ein neuer Ort geschaffen werden. Ein Prozess, der von der Presse als „kulturelle Neuerfindung einer Stadt“ bezeichnet wurde.
Ein weiteres wichtiges Thema Ihrer Projekte ist der Bau von Schul- und Universitätsgebäuden wie die Wohnanlage für 280 Studenten in Luzern für die Student Mentor Foundation 2013, das Schulzentrum Nosedo in Massagno 2017 und das kürzlich erstellte Kantonsgymnasium in Bellinzona (2018).
Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auf dem Wohl der Allgemeinheit, auf öffentlichen Gebäuden und der nachhaltigen Entwicklung von Städten. Das Luzerner Projekt hat es einer privaten, gemeinnützigen Stiftung ermöglicht, Wohneinheiten für Studenten im Park des größten Altenheims der Stadt Luzern zu erbauen, die das Gelände mit Bebauungsrecht zu spekulationsfreien Preisen bereitgestellt hat. Dadurch konnte hochwertiger Wohnraum zu einem Preis geschaffen werden, der 20-25 % niedriger ist als auf dem privaten Wohnungsmarkt. Das Projekt für das Schulzentrum in Massagno (Lugano) ermöglichte die Sanierung der 1967 aus Sichtbeton gebauten Schule und ihre Anpassung an die modernen schulischen Anforderungen. Die neue Doppelsporthalle wird auch von den örtlichen Sportverbänden und der lokalen Basketballmannschaft genutzt. Dadurch, dass die Doppelsporthalle teilweise in das Gelände eingegraben wurde, konnte sie auf nachhaltige Weise in die urbane Landschaft und das Netz der Fußwegverbindungen eingefügt werden. Das Dach ist begehbar und wird als öffentlicher Freiraum für die Schule und die Bevölkerung genutzt und hat direkten Zugang zur Schulmensa. Das Schulzentrum wird so zum Dreh- und Angelpunkt des öffentlichen Lebens und ergänzt das Netzwerk für sanfte Mobilität.
Ihre Planungskonzepte basieren offenbar auf der Strukturierung, der Modellierung von Raum und Licht und der Nutzung von Modulen. Ausdrucksstarke Schlichtheit ohne Ornamente oder stilistische Chiffren, ist das Ihr Ziel?
Das Konzept des Stils erscheint uns im Zusammenhang mit der Architektur als überkommenes Paradigma, das unserem Jahrtausend nicht gerecht wird. Das, was unsere Architektur unterscheidet, ist die Überwindung von künstlichen postmodernen Formalismen und Erkennbarkeit des Autors über stilistische Eigenheiten, um zur Essenz der Architektur vordringen zu können. Struktur und Module sind grundlegende architektonische Faktoren, ebenso die Modulierung von Raum und Licht, aber auch Nachhaltigkeit und sparsamer Gebrauch von Ressourcen. Im Grunde haben die Kriterien Vitruvs – firmitas, utilitas und venustas – ebenso wie die Konzepte von Ruskin hinsichtlich der Tugenden von Architektur weiterhin Bestand. Um ein Architekturobjekt nach unseren Wünschen zu gestalten, muss man die physischen Aspekte von Architektur beherrschen. Das heißt, man muss Konstrukteur sein. Deshalb ist es wichtig, dass der Architekt bis zum Abschluss der Bauarbeiten die Kontrolle über das Projekt behält.
In der Wahl Ihrer Materialien gehen Sie sehr präzise vor: Sie sind stark, nachhaltig, wirtschaftlich. Was halten Sie von den Möglichkeiten, die Keramikmaterial bietet?
Keramik ist einer der ältesten vom Menschen geschaffenen Baustoffe und wurde bereits in der Bronzezeit verwendet. Im Laufe der Zeit hat sich der Gebrauch auf viele Anwendungsbereiche erweitert, von den Hitzeschilden der Raumfähren bis zu den im Bauwesen eingesetzten Fliesen, der Sanitärkeramik und den Fassadenverkleidungen. Ich besitze sogar eine Uhr mit Keramikgehäuse und habe Zahn-Inlays aus Keramik. Es handelt sich um ein Material mit ausgezeichneten Eigenschaften in Bezug auf Langlebigkeit, Hygiene und Beständigkeit gegenüber unterschiedlichsten chemischen und physikalischen Faktoren, gleichzeitig ist es ein wirtschaftliches Material. Aufgrund der guten Verarbeitungsfähigkeit des „rohen“ Materials eignet sich Keramik für die unterschiedlichsten Formgebungen. Ihr Schwachpunkt ist die hohe Energiemenge, die für die Produktion erforderlich ist und sich negativ auf die ökologische Gesamtbilanz niederschlägt, auch wenn die Keramikindustrie in den letzten Jahren diesbezüglich große Anstrengungen unternommen hat. Der Digitaldruck hat vielfältige Möglichkeiten eröffnet, obgleich ich persönlich beispielsweise die Verwendung von Keramikplatten mit Holzoptik nicht interessant finde. Fasziniert sind wir hingegen von der Möglichkeit, rektifizierte großformatige Platten in großer Stärke herzustellen, so dass Keramik als eigenständiges Material einsetzbar ist. Wir würden gerne mit profilierten großformatigen Keramikplatten experimentieren, die einen ähnlichen Gebrauch wie Faserzement ermöglichen, aber die Vorteile der Materialeigenschaften von Keramik bieten würden. Die Erprobung von Dach- oder Fassadensystemen mit integrierter Fotovoltaik wäre sicherlich eine interessante Herausforderung.
BIOGRAPHIE
Durisch + Nolli Architetti
Entstand 1993 aus der Zusammenarbeit von Pia Durisch und Aldo Nolli.
Zu den ersten realisierten Bauten gehörten das Swisscom Service Centre in Giubiasco und die Sanierung des Teatro Sociale in Bellinzona (1993-1997) mit Giancarlo Durisch, die Restaurierung des Klosters Santa Maria in Claro (1997-2005) und das Haus für einen Bildhauer in Mendrisio (2000), das mit dem SIA Preis für den besten privaten Bau von 1998 bis 2003 im Kanton Tessin ausgezeichnet wurde.
Es folgten zahlreiche öffentliche Aufträge im Bereich der Kultur und der Bildung, darunter 2005 das Kulturzentrum in Chiasso mit dem MaxMuseo und dem Spazio Officina, das Ausbildungszentrum des Schweizerischen Baumeisterverbandes in Gordola 2011 und das Bundesstrafgericht Bellinzona zusammen mit Bearth & Deplazes Architekten. Diesen Bauwerken verdankte das Büro Durisch+Nolli, dass es in sämtlichen Ausgaben des SIA Preises der letzten 10 Jahre (2003-2015) als Gewinner hervorging. Zu den jüngsten Werken gehörten die Wohnanlage der Student Mentor Foundation für 280 Studenten in Luzern (2013) und das Schulzentrum Nosedo in Massagno 2017, mit Giraudi Radczuweit. 2012 gewannen Durisch+Nolli den internationalen Preis AIT Global Award for the very best in Interior and Architecture in der Kategorie „Education“ und 2014 den Prix Acier für das beste Stahlbauwerk in der Schweiz. In jüngster Zeit konnten sie durch die Teilnahme an internationalen Wettbewerben wichtige Projekte außerhalb des Kanton Tessins akquirieren wie das Assembly and Arts Building des Aiglon College (2017) und der neue Hauptsitz des Schweizer Fernsehens SRF in Zürich (2017).
Mai 2019