Architektur – Kontext – Kunst | von Alessandra Coppa

Gino Garbellini, ein Ingenieur aus dem italienischen Veltlin-Tal, Francesco Fresa, ein Römer, der in Berlin studiert hat, Germán Fuenmayor, ein Venezolaner und die Mailänderin Monica Tricarico – das ist seit 1996 die Führungsriege von Piuarch. Vier Freunde und Kollegen, die seit Mitte der 80er zehn Jahre lang im Büro von Vittorio Gregotti zusammengearbeitet und dann ein „Entwurfslabor“ entwickelt haben – ohne „großen Meister“ und als Ausdruck einer neuen italienischen Qualitätsarchitektur der leisen Töne. Heute sind sie in Italien wie auch international in verschiedenen Bereichen und Größenordnungen aktiv, stets unter besonderer Berücksichtigung des Dialogs mit dem Ort, der Interaktion mit Kunst und einem Blick fürs Detail.

„Piuarch“ steht für Öffnung, die Verschmelzung verschiedener Ansätze und Ansichten zu einem einheitlichen Projekt, beraten aus unterschiedlicher Disziplinen.

Ihr Büro, die Industrieetage einer ehemaligen Druckerei mit Gemüsegarten auf dem Dach, liegt in Mailand in der Via Palermo, mitten im angesagten Brera-Viertel.

Sie alle haben sich im Studio Gregotti kennengelernt – was haben Sie von dort mitgenommen, wie haben Sie Ihre Zusammenarbeit danach verändert?

Wir haben von Gregotti manches mitgenommen, aber nichts, das uns belastet. Positiv war, dass ich dort meine Partner kennengelernt habe und ein Emanzipationsprozess in Gang kam. Eine nützliche, lehrreiche Erfahrung, die wir aber auch leicht hinter uns gelassen haben.

Wichtig war, dass wir gelernt haben, an Projekte aller Art heranzugehen. Es gab viel Arbeit und wir jungen Architekten wurden einfach ins kalte Wasser geworfen. In der Zusammenarbeit haben wir uns als Team gefunden.

Haben Sie bei Gregotti auch im Team gearbeitet?

Im Studio Gregotti gab es Teamarbeit angesichts der überragenden Rolle des Meisters nicht direkt… Wir dagegen sehen uns mehr als „Labor“ mit verteilten Rollen. Hier gibt es keine Regeln, wir ergänzen uns sehr gut. Selbständig gemacht haben wir uns mit dem Wunsch, nach vorne zu schauen, Neues zu schaffen, nicht, um zu vergessen.

Ihr erstes Projekt waren die Sozialwohnungen auf dem ex-Falck-Areal in Sesto San Giovanni, zuletzt haben Sie den Sitz von Gucci in der Via Mecenate in Mailand entworfen. Wie hat sich Ihr architektonischer Ansatz verändert, was ist gleich geblieben?

Unser erstes Gebäude war eine einschneidende, unvergessliche Erfahrung – die staatlich geförderte Wohnanlage Fola in Sesto San Giovanni. Qualitativ hochwertiger Sozialwohnungsbau mit experimenteller Verwendung von Holz, damals ein wichtiges Thema. Unser Entwurf zitierte die Bauten von Terragni, wir waren jung. Das Ergebnis war ein bisschen verschult, aber doch raffiniert, bis ins kleinste Detail. Unser neuestes Werk ist die Gucci-Niederlassung in der Via Mecenate. Vom ersten Entwurf entscheidet es sich größenmäßig, aber auch durch weniger Detailversessenheit oder besser, die Fähigkeit, das Detail nicht für sich sondern als Teil eines großen Ganzen zu betrachten. Das Gebäude ist als lebender Organismus gedacht – der Detailgedanke ist hier viel komplexer, das Neue wird einer Industriearchitektur gegenübergestellt.

Luca Molinari schreibt, der Kontakt mit Piuarch bedeute, sich „mit einer ungewöhnlichen professionellen Dimension und gleichzeitig mit etwas Neuem, im Werden begriffenen, auseinanderzusetzen“…

Wir feiern dieses Jahr unser 20jähriges Bestehen. Eine schöne Leistung und ein gutes Beispiel für unseren multiprofessionellen Ansatz, der die leisen Töne bevorzugt. Wir definieren uns über das, was wir erreicht haben, präsentieren uns durch unsere fertigen Projekte. Diese Art von Kommunikation ist aus unserer Sicht besser. Schon die Tatsache, dass unser Name „kein richtiger Name“ ist, zeigt unser Gemeinschaftsgefühl und zugleich die Öffnung nach außen – dass wir, auch über externe Berater, viele Personen in die Projekte einbinden.

Stimmt es, dass Ihre Architektur unabhängig von Stilen und Ausdrucksweisen ist und vielmehr die „Qualität“ und den Dialog mit dem „Ort“ in den Mittelpunkt stellt?

Auf jeden Fall. Die Auseinandersetzung mit dem Standort, für den wir das Projekt entwerfen, ist für unsere Arbeit von zentraler Bedeutung, eine Art Rahmenbedingung. An jedem neuen Ort schauen wir uns zunächst gut um. Die Umgebung schafft Ideen, inspiriert uns. Für mich macht dabei nicht nur der Ort selbst den Kontext aus, sondern auch das, was man nicht sieht, die „Kultur“ des jeweiligen Ortes. Auch Kunst, ein integraler Bestandteil unserer Arbeit, gehört zum Kontext. Ein nicht nur physischer, sondern auch ein wahrgenommener Kontext, den ich als „Kontamination“ betrachte.

Betrachten wir Ihre Projekte einmal mit Hilfe von Schlüsselbegriffen: Filter/Fassade, Basic/Materialien, Luxus/Detail, Höfe/Urban, Stadt/Landschaft… Können Sie diese jeweils einem ihrer Projekte zuordnen?

„Filter/Fassade” steht für mich für das Bentini Headquarter (Faenza, Ravenna 2009-2010), denn dort bestand der Kontext aus dem Nichts. Die eher eintönige Landschaft wurde durch „Filter“ wiedergegeben – große Quadrate, die das Äußere nach innen tragen, gleichsam einen Rahmen schaffen. Für „Basic/Materialien“ würde ich das Gebäude in Porta Nuova, Mailand, wählen. Entscheidend ist hier der weiße Rahmen; das Weiß verleiht dem Projekt Homogenität. Wir haben einfach einen Fassadenputz verwendet, der eine Art von „Abstraktion“ ermöglicht. Das Material betont die Form. Das Thema Luxus/Detail dagegen passt zu allen Gebäuden, die wir für die Modeindustrie verwirklicht haben. Hier ist die Architektur die Summe der Details. Für „Höfe/Urban“ steht sicherlich das Business Centre Quattro Corte in der Altstadt von St. Petersburg. Ein Gebäude mit historischen Fassaden, in das wir als Lichtquelle für die Innenräume vier Innenhöfe eingebaut haben, die jetzt als Ausstellungsorte für Kunstinstallationen, Ausstellungen und andere öffentliche Veranstaltungen dienen. Für die Sparte „Stadt/Landschaft“ würde ich unser noch im Bau befindliches Projekt in Riva del Garda wählen. Hier wird das Gebäude in Beziehung gesetzt zu See und Bergen.

Für Dolce & Gabbana haben Sie 2006 den Geschäftssitz in Mailand und fünf Jahre vorher die Factory Incisa in Val d’Arno entworfen. Wie war die Zusammenarbeit mit Ihren Auftraggebern?

Eine wunderbare Gelegenheit, uns über die Auseinandersetzung mit Projekten höchster Qualität weiterzuentwickeln. Dabei war die Arbeit mit Dolce & Gabbana nicht leicht, da sie sehr anspruchsvoll sind. Es gab Profilierungskonflikte zwischen uns – denn die Auftraggeber wollten sich hier durch die Architektur darstellen: Die Gebäude sind Ausdruck ihrer Art, Mode zu machen.

Sie haben auch das schon erwähnte Gebäude auf der Piazza Gae Aulenti in Mailand Porta Nuova entworfen – ein schwieriger Standort angesichts seiner Rolle als „urbanes Bindeglied“…

Uns ging es darum, die Regeln des Masterplans zu durchbrechen, der eher die Aussicht beschnitt, zu sehr auf die Piazza konzentriert war. Ganz im Gegensatz zur Ausschreibung, in der ein hohes Gebäude gefordert war, ist unser Gebäude niedrig. Es hat dieselbe Höhe wie die historischen Gebäude des Viertels und verbindet die geschlossene, introvertierte Piazza mit dem Fußgängerbereich, der durch das Viertel Gioia in Richtung Piazza della Repubblica und des zukünftigen Parks führt.

Anlässlich des Salone 2015 haben Sie im Hof der Staatlichen Universität in Mailand für die den Fachbereich Innenarchitektur eine Installation mit interessanter Interaktion zwischen Keramik und Architektur erstellt.

Für die Installation wurden die Fliesen verwendet, die wir für Marazzi mit einem Design, das Gio Ponti zitiert, entwickelt haben. Ein und dieselbe Fliese schafft unterschiedliche Geometrien – durch Spiegeleffekte haben wir architektonische Elemente des Atriums der Staatlichen Universität betont. Die Installation hieß Punti di Vista (Standpunkte) und sollte zum Nachdenken über die architektonischen Eigenschaften des Kontextes einladen. Die klassischen architektonischen Elemente der Staatlichen Universität – Fries, Säule, Bogen – wurden in reine geometrische Figuren heruntergebrochen, aus denen sich wiederum ein interaktiver Raum ergab. Die drei mit dem Feinsteinzeug Mystone von Marazzi verkleideten architektonischen Formen ermöglichten zugleich „Ein-, Richtungs- und Durchblicke“. Die Besucher konnten sich den Bauten nähern, diese betreten, dabei eine Vielzahl von Spiegelungen und Einblicke erleben und sich ganz auf dieses kaleidoskopische Wechselspiel einlassen.

Waren es dieselben Fliesen, wie die des Tischs in Ihrem Gemüsegarten auf dem Dach des Büros?

Ja, genau. Unser Projekt „Gemüsegarten zwischen Höfen“ geht hauptsächlich auf den Wunsch zurück, die Dachfläche unseres Studios aufzuwerten.

Ist das dann eine Art Metapher für Natur/Architektur?

Ich sehe die Natur als eine andere Art und Weise, unsere Arbeit zu „kontaminieren“. Sie stellt keine Priorität dar, sondern eine Möglichkeit, über die wir verfügen. Der Gemüsegarten hilft uns dabei, gemeinsam zu planen und zu arbeiten.

BIOGRAFIE

Piuarch

Francesco Fresa, Germán Fuenmayor, Gino Garbellini und Monica Tricario gründen 1996 das Studio Piuarch, geeint von dem Wunsch, unterschiedliche Erfahrungen zu einem gemeinsamen Architekturprojekt zusammenzuführen. Mit der Zeit wächst das Team von Piuarch auf heute mehr als 30 Architekten und Ingenieure aus aller Welt an unter der Leitung der vier Gesellschafter sowie 11 Partnern. Unter Einbindung von Beratern verschiedenster Disziplinen entwirft Piuarch öffentliche Gebäude, Büro- und Wohnbauten, Gewerbeflächen und Boutiquen bis hin zu Bebauungsplänen. 2010, 2012 und 2014 wurde Piuarch für die Mitwirkung am italienischen Pavillon der 12., 13. und 14. Architekturbiennale in Venedig ausgewählt.

Zu den jüngst fertiggestellten Projekten zählen die zwei Pavillons für Enel und die Caritas bei der EXPO 2015 in Mailand, der Flagship Store von Givenchy in Cheongdam Dong (Seoul), das Gebäude Quattro Corti in St. Petersburg, der Wohnkomplex Village in Segrate (MI), die Niederlassung der Firma Bentini in Faenza, das neue Bürogebäude von Dolce&Gabbana in Mailand sowie das Gebäude Onda Bianca im Mailänder Stadtteil Porta Nuova.