Editorial Kommentare
Keramik als Chance | von Alfredo Zappa
Die Bauwirtschaft sieht sich derzeit mit einer epochalen Veränderung konfrontiert: Quantitativ ausgelegte Überlegungen müssen qualitativen Ansprüchen weichen, Neubauten der Sanierung und dem urbanen Redevelopment, Bauwerke mit geringen Leistungsmerkmalen sind gefordert, mehr Energie zu produzieren als sie verbrauchen. Nationale und europäische Gesetzgebungen, Regelwerke, Subventionen und Fördergelder zielen alle in die gleiche Richtung. Immer weniger auf empirischen Werten basierend, sondern auf genauen Berechnungen und Leistungsbewertungen, bestimmen heute ultra-präzise Planungsanforderungen die Bauwirtschaft in einer Weise, die vor wenigen Jahrzehnten noch kaum vorstellbar war. Neues Wissen, neue professionelle Profile, neue Anforderungen verlangen einen interdisziplinären Ansatz und die Integration von Kompetenzen. In diesem Konstrukt lässt das Ingenieurwesen (im weitesten Sinne) der Kreativität des Architekten scheinbar immer weniger Raum. Tatsächlich geschieht dies vor allem, wenn Architekten ihrer Berufung nicht gerecht werden und sich nicht auf Neues einlassen – neue Technologien, neue Baustoffe, neue Bautechniken. Aspekte, die der Rolle und der schöpferischen Interpretationen der Architekten bedürfen, um ehrgeizige Ziele zu erreichen und fachliche Expertise unter Beweis zu stellen. Die daraus entstehende Wertschöpfung ist notwendig, um der sonst drohende Ausgrenzung gegenzusteuern. Aber, wie bereits der Schriftsteller Sciascia in seinem Werk ‚Ein einfacher Fall‘ sinngemäß sagte: “Italienisch als Fach beschränkt sich nicht nur auf die Sprache selbst: Es erfordert auch viel Nachdenken und Hinterfragen“. Und das gilt auch für den Architekten.
Wir wollen einige Beispiele nennen, um näher zu erläutern, was gemeint ist. Nehmen wir unser spezifisches Interessengebiet, das heißt also Produkte und Systeme aus Keramik für Sanierungs- und energietechnische Nachrüstungen vorhandener Bauwerke. Das Angebot ist extrem breit und tief und bietet sowohl Baustoffe als auch Bauchemie, die unterschiedlichste Anwendungsanforderungen erfüllen. Das führt dazu, dass sich bei der Wahl der Produkte manchmal ein gewisser Automatismus einschleichen und einige wirklich außerordentliche Chancen verpasst werden könnten.
Im Bereich der Gebäudehüllen haben die bekanntesten Lösungen nur scheinbar den kreativen und experimentellen Raum für Energieeffizienzmaßnahmen voll ausgenutzt; das gilt für traditionelle Methoden wie Betonmauerwerk bis hin zu Kaltfassaden aus hinterlüfteten Trockensystemen auf Metallrahmen und mit externen Feinsteinzeugschichten. Bislang wird das Potential von Feinsteinzeug für den Fassadenbau von Bauwerken nur wenig genutzt. Nehmen wir ein Beispiel: Farbe hat bekanntlich einen erheblichen Einfluss auf die Wärmeaufnahme der Gebäudehülle bei Sonneneinstrahlung. Die beiden Extreme bilden weiße und schwarze Fassaden, die an einem Sommertag ganz erhebliche, bis in doppelstellige Werte reichende Temperaturunterschiede aufweisen und den Energiehaushalt erheblich beeinflussen können. Geht man von Produkten mit gleichwertigen morphologischen Merkmalen, Eigenschaften und Leistungen aus bieten moderne Keramikplatten nicht nur attraktive und leistungsstarke farbliche Alternativen für die Auslegung von Gebäuden und ihrer Strahlungsberechnung, sondern es stehen auch viele Optionen zum Thema Leistungsreflexionsfaktor bereit. Die Kataloge bieten eine breite Auswahl mit mattem, poliertem, glasiertem, metallic Finish und einige sogar mit selbstreinigenden und Emissionsabschlagseigenschaften für das urbane Ambiente.
Weitere passive Einsparungen öffnen sich durch die Verlegung unterschiedlich dicker Keramikplatten auf den Fassaden. Mit Plattendicken, die heuten von ultradünnen 3 mm bis zu Überstärken von 20 mm reichen bieten sich strategische Verlegekonzepte an, in denen die abwechselnde Verlegung unterschiedlich dicker Platten höhere oder niedrigere Wärmeisolierung bietet. Dadurch wird die Wärmeisolierung eines Gebäudes je nach Ausrichtung der verschiedenen Fassadenseiten bei gleichwertigen technischen Leistungen des Baustoffs erzielt und ein einheitliches Gesamtbild gesichert. Am entgegengesetzten Ende der Auswahlmöglichkeiten und dank der umfassenden Erfahrungen mit Verlegesystemen im Trockenverfahren können Keramikbeläge auch mit anderen Baustoffen kombiniert werden, wie Alu-, Transparent- oder Buntglasplatten und sogar Holzdielen. Aufgeschlossenen Planern bietet sich neben reinen Architekturlösungen ein breites Lösungsspektrum zur der Frage der Wärmeisolierung von Fassaden.
Ein weiteres Feld, in dem es noch viel zu erforschen gibt, sind adaptive Gebäudehüllen, d.h. Systeme, die ihre morphologischen und leistungstechnischen Eigenschaften mithilfe von Gebäudetechnik auf die jeweiligen Zustandsänderungen anpassen. Vorreiter ist hier Werner Sobek mit seinen Studien an der ILEK in Stuttgart. Es fällt nicht schwer, sich in der Praxis trocken verlegte Keramikfassaden mit unterschiedlichen Farben vorzustellen, die auf der Rückseite miteinander gekoppelt sind und horizontal oder vertikal rotieren. Auf diese Weise wird die für die gewünschte Sonneneinstrahlung optimale Seite je nach den Zustandsbedingungen der Umwelt ausgerichtet. Praktisch sähe das dann so aus, dass die schwarze Fassade im Winter nach Süden gedreht ist und damit zu einem passiven Wärmertrag beiträgt, während sie im Sommer weiß ist und die Aufheizung reduziert.
Ähnliche Möglichkeiten liefert Keramikmaterial nicht nur für die externe Gebäudehülle, sondern auch für den Innenausbau. Dieser Lösungsansatz unterstützt die Energieeffizienz historischer Gebäude unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen Fassaden durch einen Schichtaufbau der wärmedämmenden Baustoffe und einem Keramikabschluss nach innen zu den Wohnräumen. Der größte Vorteil liegt in der möglichen Sanierung von Flächen und Volumen durch eine unendliche Auswahl an Formaten und Oberflächenvarianten der Keramikmaterialien: von unifarben bis Marmoroptik, von Holzoptik bis Rauputzeffekt gepaart mit einem extrem hohen Widerstand zum Schutz der darunter liegenden Dämmschichten. Dazu kommt, dass Keramik langfristig lichtecht bleibt, pflegeleicht und wartungsarm ist. Ein weiterer, nicht minder großer Vorteil sind die bereits erwähnten unterschiedlichen Dicken der Keramikscherben. Sie unterstützen die Modellierung der Verkleidung und damit die Dämmfähigkeit des Schichtaufbaus mit unverkennbarer Optimierung der Leistungsmerkmale der Gesamthülle.
Fazit, Qualität und Eigenschaften von Keramik können bei sachverständigem und originellem Einsatz nicht nur das Gesamtergebnis eines Projektes positiv beeinflussen, sondern auch ganz allgemein einen ganz anderen Sprachgebrauch und damit neue architektonische Ausdrucksform schaffen, die Form und Inhalt miteinander verbindet. Denken wir also an das selbstironische Bonmot des britischen Architekten Cedric Price „Technologie ist die Antwort – aber was war die Frage?“