Architektur aus der Zukunft | von Alessandra Coppa

Die Pandemie hat alle zu einem schnellen Wandel der Perspektive und unserer bewährten Gewohnheiten gezwungen, um an eine andere Gegenwart und Zukunft denken zu können. Heute besteht die große Herausforderung für Architekten darin, vorwegzunehmen zu versuchen, wie die Wohnräume und Gemeinschaftsbereiche nach der gegenwärtigen Krise auf innovative, nachhaltige Weise neu gestaltet werden könnten.

Im Band Architetture dal futuro. Visioni contemporanee sull’abitare (Architekturen aus der Zukunft. Zeitgenössische Visionen zum Thema Wohnen. 160 Seiten, 60 Illustrationen, 32 € herausgegeben von 24 ORE Cultura) habe ich versucht, zu untersuchen, welche Idee der Zukunft in der Architektur – von der „Zukunft von gestern“ ausgehend über die „Tendenzen der Gegenwart“ bis hin zu den „Visionen für die Zukunft“ – fünfzehn der größten Planungs- und Architekturbüros der Welt haben.

Während in den Utopien bezüglich des Wohnens in Wohnungen und in Städten des 20. Jahrhunderts die „Maschine“ den absoluten Mittelpunkt bildet, übernimmt diese Rolle in den Neoutopien des 21. Jahrhunderts hingegen die „Natur“.

Das Ergebnis ist ein neuer Weg, den die Architektur fern von den symbolhaften Gesten der Archistars einschlagen muss. Sein Merkmal ist eine „neue Normalität“, die ein größeres Augenmerk auf umweltbezogene, soziale, wirtschaftliche und jetzt auch gesundheitliche Fragen legt, um die sich gerade global alle Debatten drehen.

Nach einer Ausrichtung auf eine großteils kontextunabhängige, architektenbezogene Gestik wohnen wir heute einerseits der Verbreitung einer neuen Ethik der Nachhaltigkeit und andererseits einem ausgeprägten Experimentieren und der Verwendung der Technologie in einem komplexen neuen Verhältnis zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen bei.

Die Architekten sind zu einem anderen strategischen Ansatz aufgerufen, der komplexe Themen wie die kollektive Verantwortung für den Klimawandel, die ethische Rolle der Architektur zwischen menschlichen Handlungen und Natur, die neue Wohnungsnot, die neuen Typologien von Benutzern (ältere Menschen, Migranten und neue Formen der Armut infolge der Krise…) und den Bedarf, „nicht mehr zu bauen“ berücksichtigt.

Die Zukunft steht denjenigen offen, die lernen, mit dem Wandel umzugehen. Und die große Krise aufgrund der Coronavirus-Pandemie, die wir gerade erleben, beschleunigt den bereits in Gang gesetzten Wandel der Prozesse zweifellos.

Wie wird das Planen nach dem Coronavirus aussehen? Wird der Coronavirus zur Gelegenheit, die Städte und unsere Wohnungen umzugestalten?

Eine neue Allianz zwischen Stadt und Natur, zwischen Architektur und Pflanzenwelt unter Berücksichtigung des Größenverhältnisses des Gebäudes, des Stadtviertels und der Stadt stellt die große Priorität im Ansatz an die Planung von Stefano Boeri dar, der behauptet, dass die große Herausforderung der kommenden Jahre darin besteht, die Stadtbewohner nicht nur zu Verantwortlichen oder Opfern des Klimawandels zu machen, sondern zu Protagonisten in einer weltweiten Kampagne, um die verantwortlichen Faktoren und die Nachteile zu senken und zu verlangsamen, angefangen bei der CO2-Produktion, der wachsenden Hitze und den Schadstoffen in der Luft. Deshalb hat er vom Bosco Verticale ausgehend den Masterplan des noch in Bau befindlichen Liuzhou Forest City, der erste Waldstadt der Welt in China, entwickelt.

Auch Carlo Ratti pocht auf den Bedarf, die Natur mit der gebauten Umgebung zu integrieren, und vertraut auf die Technologien zum Klimaschutz und den Hydroponik-Anbau, der die städtische Landwirtschaft begünstigt. Aus diesem Grund hat er einen „Weingarten auf dem Dach“ in Mailand geplant. Die Wohnung der Zukunft stellt er sich wie ein iPhone vor: eine Plattform, die durch sowohl tatsächliche als auch digitale Veränderungen ganz nach unseren Bedürfnissen umkonfiguriert werden kann.

Auch Mario Cucinella ist überzeugt, dass die Gebäude kein Umweltproblem mehr darstellen dürfen, wie es heute der Fall ist, sondern Teil der Lösung des Problems sein müssen – im Bewusstsein, dass Bauen heute nicht eine Nachhaltigkeitsmaßnahme an und für sich darstellt, da Bauen meistens bedeutet, Material umzuwandeln und Energie zu verbrauchen. Aus diesem Grund wurde TECLA ins Leben gerufen, ein neues Wohnungsmodell der Kreislaufwirtschaft, bei dem zur Gänze wiederverwendbare, recycelfähige, vor Ort gesammelte Materialien mit einer 3D-Technologie zum Einsatz kommen.

Elisabetta Trezzani (Partnerin von Renzo Piano Building Workshop) glaubt, dass ein wichtiges Engagement für die Wohnungen der Zukunft in der Planung von CO2-neutralen Gebäuden bestehen wird, um schließlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Funktion und des Standortes die Kohlenstofffreiheit zu erreichen. Es gibt klarerweise nicht nur eine einzige Lösung, aber das Ziel ist eine integrierte Planung, die dazu beitragen soll, die Gebäude, in denen wir leben, resilienter gegenüber verschiedenen Klimabedingungen, der Zeit und den Wartungskosten zu machen.

Gianluca Racana (Zaha Hadid Architects) hat erklärt, dass wir nach und nach von einer monozentrischen Stadt zu einer multizentrischen und multifunktionalen und zu einer Smart City übergehen werden und dass die wachsenden Gelegenheiten, von zuhause aus zu arbeiten, direkt dazu führen werden, mehr Zeit in der häuslichen Umgebung zu verbringen. Dies führt wiederum zu einer Nachfrage nach größeren Wohnungen mit einem Arbeitsbereich und Außenbereichen wie Balkonen und Privatterrassen sowie gemeinsamen Gärten und geteilten Dienstleistungen.

Mario Botta denkt über den schweren aktuellen Notstand nach, der uns von den Gelegenheitsproblemen abgelenkt und uns gezwungen hat, anzuhalten und die Urwerte des Lebens und des Wohnens neu zu überdenken, während Doriana und Massimiliano Fuksas überzeugt sind, dass es notwendig ist, unsere Art, zu wohnen, im breiteren Sinne neu zu denken. So haben sie beschlossen, ihre Überlegungen in einem Brief an den italienischen Präsidenten der Republik Sergio Mattarella zusammenzufassen. In den vier Punkten des Briefes werden mögliche Leitlinien erwogen, die an den Wohnungsbau in der Zeit nach dem Coronavirus angewandt werden könnten, indem sie als erste Gesundheitsschutzstelle umgedacht werden und bereits während des Baus mit einem Pulsoxymeter (ein Messer der Sauerstoffsättigung) und einem PC, der eine Verbindung mit dem örtlichen Gesundheitswesen ermöglicht, ausgestattet werden könnten.

Odile Decq denkt über den Lockdown aufgrund des Coronavirus nach, der uns gezwungen hat, wieder von zuhause aus zu arbeiten. Das hat Probleme bereit, weil viele Wohnungen zu klein für einen so langen Aufenthalt sind. Dieses Phänomen hat neue Wohnwünsche wie etwa die Nutzungsmöglichkeit eines Außenbereichs wie Balkone, Terrassen oder einen Garten hervorgebracht.

Laut Patricia Viel (Studio Citterio-Viel) wird die Wohnung von morgen flexibel und einfach umkonfigurierbar sein: eine Wohnung, die auf der Grundlage der Hybridiseriung der Funktionen geplant wird, wie etwa die im Wolkenkratzer La Bella Vita in Taichung geplanten Wohneinheiten.

Ben van Berkel von UNStudio denkt, dass nach dem derzeitigen technologischen Erdbeben und der Pandemie die möglichen Zukunftsszenarien im Wohn- und architektonischen Planungsbereich zahlreiche Möglichkeiten bestehen: In nicht allzu langer Zeit werden unsere Wohnungen zu empathischen Maschinen werden, die in der Lage sind, unsere Vorlieben aufzuzeichnen und automatisch auf unsere Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu antworten. Aber das interessanteste an der Zukunft ist vielleicht, dass die verwendeten Technologien anhand der Datenerfassung in der Lage sein werden, unsere Leben zu analysieren und zu messen.

Noch gewagter ist die Herausforderungen für die Zukunft von Foster + Partners, die darauf abzielen, nachhaltige Wohnungen auf anderen Planeten wie Mars zu bauen, auch, um ein Überlebenstraining hier auf der Erde anzubieten, um extremen Klimabedingungen oder außergewöhnlichen Ereignissen wie die aktuelle Pandemie entgegenzuwirken.

Italo Rota experimentiert hingegen im Italien Pavillon, Dubai, 2021 mit den „Baustoffen der Zukunft“ aus Orangenschalen, Kaffeesatz, Mycel (der vegetative Teil von Pilzen) und aus dem Meer gesammelten Recyclingkunststoffen, die als Bauelemente verwendet werden, um mit nachhaltigeren Bautechniken zu experimentieren und sich für eine Kreislaufwirtschaft einzusetzen.

Der Band ist in Buchhandlungen und online erhältlich.

 

November 2020