Architektur im Dienst der Menschen | von Alessandra Coppa

Im Dezember 2003, knapp ein Jahr nach der Gründung ihres Studios in Rom, hat die amerikanische Fachzeitschrift „Architectural Record“ in ihrer Ausgabe „Design Vanguard“ Labics zu den wichtigsten aufstrebenden Architekturtalenten der letzten Jahre gezählt.

Diese Erwartungen wurden nicht enttäuscht und heute beschäftigen sich Labics, das sind Maria Claudia Clemente und Francesco Isidori, weiterhin – mit der gleichen Begeisterung wie damals – mit Theorie und Praxis, indem sie mit Projekten in einer großen Bandbreite an Maßstäben und Kontexten mit besonderem Interesse für die zeitgenössische Stadt und die Beziehung zwischen Architektur, städtischer Struktur und öffentlichem Raum experimentieren.

Sie haben mehrmals am kulturellen Programm von Cersaie „costruire, abitare, pensare“ (bauen, wohnen, denken) teilgenommen. Unter den umgesetzten Projekten ragen das MAST in Bologna und die „Città del Sole“ in Rom heraus. Unter den zuletzt verwirklichten ist der Eingriff der Wohngebäude Feel UpTown, das neue Projekt des Smart Districts UpTown im Gebiet von Cascina Merlata in Mailand von besonderer Bedeutung: Sein Unterscheidungsmerkmal ist die Aufmerksamkeit auf die Nachhaltigkeit und personenbezogene Dienste ausgerechnet in diesem heiklen Moment des Gesundheitsnotstands, in dem die Idee des Wohnens neu bewertet wurde und sich gewandelt hat, während die Grenzen der Wohnungen neu entdeckt wurden.

 

Wie ist Ihr Büro entstanden und warum haben Sie den Namen Labics gewählt?

Das Büro ist 2002 mit der Idee entstanden, einen gemeinsamen Forschungsweg in der Architektur zu teilen, dessen Grundsätze und Werte wir in der vor Kurzem von Park Books veröffentlichten Monografie mit dem Titel Structures zu erzählen versucht haben. Der Name Labics, der aus dem Präfix Lab – Labor – gefolgt von den Initialen der drei Gründungsmitglieder besteht, ist ein Ergebnis dieser Einstellung: Das Büro als Ideenlabor, in dem geforscht und experimentiert wird.

 

Auf Ihrer Website haben Sie eine interessante Deutung für Ihre Projekte nach „konzeptuellen Kategorien“ geliefert: Kreislauf, Kontext, Figur-Hintergrund, Rahmen, Geometrie, Schwere, Muster, Öffentlichkeit, Strukturen, Gebiete, Leerräume. Können Sie jeder Kategorie eines Ihrer Projekte zuweisen und die tiefere Bedeutung dieser Beziehung, von der in der im MAXXI präsentierten Monografie „Structures“ die Rede ist, erklären?

Die Website erzählt unsere Bezugswelt; es handelt sich um eine Concept-Map – eine Art Genealogie – unseres Forschungsgebiets, sowohl des theoretischen als auch des bildlichen. Aus diesem Grund ist es schwierig – wenn nicht unmöglich, jeder Kategorie ein Projekt zuzuweisen: in erster Linie, weil die Bezüge selten direkt verwendet wurden, während sie oft nur erwähnt oder zitiert wurden und deshalb im Hintergrund blieben; außerdem leben bei fast all unseren Projekten verschiedene konzeptuelle Kategorien zusammen. In Wirklichkeit bilden die Kategorien und Bilder gemeinsam einen Aktionsbereich, in dem sich unsere Projekte bewegen. „Structures“ nimmt genau auf diesen Aktionsbereich Bezug. So sind alle auf unserer Website zu findenden Kategorien und Verweise Strukturen, die natürlich mit der Bedeutung gemeint sind, die wir diesem Begriff zuordnen. Dabei sind Kreislauf, öffentlicher Raum, Tragstrukturen und Geometrie diejenigen darunter, von denen im Buch in 4 spezifischen Abhandlungen die Rede ist; aber auch in diesem Fall besteht keinerlei direkter Bezug zwischen den Abhandlungen und den Projekten. Wie auch bei der Website ist das Buch ein Hypertext, ein Gebiet, in dem man einen Forschungsweg verfolgen kann.

 

La Città del Sole, Rom (2007 – 2016)

 

Zwischen den Mustern ist auch das Labyrinth in Shining von Kubrick, warum?

Das Labyrinth ist eine sehr alte räumliche Struktur, vielleicht eine der ersten räumlichen Erfindungen der Menschheit. Das mit dem Zweck, einen Raum zu schaffen, in dem man leicht desorientiert ist, entstandene Labyrinth ist von Natur aus eine Struktur ohne Hierarchie und Leitung, ein abstrakter Raum bzw. eine abstrakte Figur. So gesehen kann das Labyrinth als Muster angesehen werden, weil es auf einem sich wiederholenden geometrischen, örtlich veränderlichen, aber in einer Sicht „aus der Ferne“ stets mit sich selbst identischen Schema beruht. In diesem Fall ist die Figur des Labyrinths aufgrund seines mehrdeutigen Charakters interessant: Seine Vielschichtigkeit und Doppeldeutigkeit lässt zahlreiche Interpretationen offen.

 

Eines meiner von Ihnen umgesetzten Lieblingsprojekten ist das MAST in Bologna (2006-2013), eine Art Zitadelle, die durch die Verwandlung eines aufgelassenen Industriegebiets entstand. Mit welchen komplexen Aspekten waren Sie in diesem Projekt konfrontiert?

Um die Komplexität des Projekts zu begreifen, müssen wir uns einige der Hauptziele, die der Ausschreibung zugrunde liegen, und seine programmatische Vielschichtigkeit in Erinnerung rufen: Nach den Wünschen des Auftraggebers sollte MAST ein extrem innovatives – sowohl theoretisches als auch programmatisches – Interaktionsexperiment zwischen der normalerweise ausschließenden industriellen und der integrativen und offenen Bedingung der Stadt darstellen. In diesem Sinne kann MAST als Grenzgebäude interpretiert werden: Sein Wesen an der Schnittstelle zwischen öffentlich und privat, zwischen offen und geschlossen war eine der wichtigsten Herausforderungen, die wir sowohl bei der Flusssteuerung, als auch bezüglich der Beziehung zwischen den Teilen und der Festlegung der Siedlungsstruktur in Angriff nehmen mussten. Das zweite komplexe Element betraf das darin geplante Programm: Da verschiedene Nutzergruppen und Tätigkeiten kombiniert werden mussten, von denen einige vorwiegend – aber nicht ausschließlich – dem betriebsinternen Personal gewidmet waren, wie etwa das Betriebsrestaurant, der Betriebsklub, der Wellnessbereich und die Kinderkrippe, während andere komplett der Öffentlichkeit offen stehen sollten, wie die Galerie, das Auditorium und die Cafeteria, war es unumgänglich, eine komplett neue Art des Bauens zu erfinden. Auf diese programmatische Vielschichtigkeit haben wir auf komplexe Art zu antworten versucht, indem wir die verschiedenen Funktionen nicht auf analytische Weise organisiert haben, sondern das Gebäude vielmehr als eine Art Mikrostadt angesehen haben, in der die Gesamtheit der verschiedenen Tätigkeiten durch die Struktur der Wege und der öffentlichen Bereiche zusammengehalten wird. MAST ist eine Kombination aus stark unterschiedlichen Gebäuden, die alle ihre eigene Spezifizität haben: Man kann sich die Komplexität der Strukturen und Anlagen, die sich daraus ergibt, leicht vorstellen.

 

MAST, Bologna (2006-2013)

 

Am 15. Juni 2020 hat der Verkauf von Feel UpTown begonnen, der neuen Anlage des Smart Districts UpTown im Gebiet Cascina Merlata, einem von EuroMilano mit Ihrem Architekturbüro, dem Ingenieurbüro SIO Engineering und dem Landscape Designer Valerio Cozzi gemeinsam entwickelten Projekt. Das 2016 begonnene Projekt besteht in 317 Wohnungen, die sofort nach dem Covid19-Notstand auf den Markt kommen. Entsprechen diese neuen Wohnungen den neuen Wohn- und Gesundheitsbedürfnissen?

Die Wohnungen Feel UpTown entsprechen den Wohnbedürfnissen zu Covid-Zeiten perfekt, weil sie vom Wohlbefinden ihrer zukünftigen Bewohner ausgehend geplant wurden. Aus dieser Sicht handelt es sich um ein innovatives Projekt, das eine Reihe von gemeinsamen Dienstleistungen, Grünflächen und Außenbereichen bietet, die die Lebensqualität in der Wohnung auch im Fall eines Lockdowns garantieren. So gibt es in Feel UpTown neben einem gut gegliederten Wohnungssystem eine Reihe von den Bewohnern gewidmeten Dienstleistungen wie etwa einen Co-Working-Bereich, einen Bereich für Kinder, einen kleinen Squashplatz, ein Kino und einen Wellnessbereich mit Schwimmbecken. Darüber hinaus bietet Feel UpTown eine Reihe an Grünflächen und Außenbereichen, die teils geteilt und teils privat sind. Allen voran steht das grüne Herzen in der Mitte dieser Bauprojekts, ein großer öffentlicher Garten im Wohnblock, der den Ort der Identität und Begegnung der neuen hier niedergelassenen Gemeinschaft darstellt; weiter geht es mit den Privatgärten der Wohnungen im Erdgeschoß des Hofs, während den krönenden Abschluss die Anlage aus großräumigen Loggias, Terrassen und Balkonen bildet, mit denen alle Wohnungen ausgestattet sind. In dieser Hinsicht passt das Projekt Feel UpTown perfekt in den zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzten Forschungsschwerpunkt – unter den berühmtesten Beispielen ist die Unité d’habitation von Le Corbusier – wo das Wohngebäude nicht mehr nur eine Gruppe aus Wohnungen ist, sondern eine Reihe von Dienstleistungen für die Gemeinschaft bietet. Aber darüber hinaus bietet das Projekt Feel UpTown neue Perspektiven in der Beziehung zwischen Gebäude und Stadt: Zu lange haben sich unsere Städte durch die Errichtung von abgeschiedenen, zusammenhanglosen und oft eingezäunten Wohngebäuden entwickelt, die außerstande sind, Gemeinschaftsräume zu bieten. Gebäude, in denen man sich einsam fühlt. Um diese Tendenz umzukehren, haben wir als eines der ersten Themen bei der Entwicklung des Projekts Feel UpTown den Wiederaufbau einer starken Beziehung zwischen Gebäude und städtischem Umfeld in Angriff genommen. Zum Glück ist Feel UpTown im Unterschied zu zahlreichen der jüngsten Beispiele für den Wohnbau Teil eines gut gegliederten städtischen Projekts, das mit dem Ziel entstanden ist, einer Stadtportion eine klare Gestalt zu verleihen – einer Stadt, die nicht nur aus isolierten Objekten, sondern aus strukturierten Systemen besteht: Das System der Bauten, das natürliche System, das System der Gemeinschaftsbereiche.

 

Wohnungen Feel UpTown, Cascina Merlata, Mailand (2016)

 

Ich erinnere mich, dass Sie 2016 im Rahmen des kulturellen Programms „costruire, abitare, pensare“ (bauen, wohnen, denken) an der Cersaie teilgenommen haben, und habe Sie im April 2020 in den Cersaie Small Talks verfolgt. Was halten Sie vom Ausdruckspotential der Keramik? Verwenden Sie Keramik in Ihren Projekten?

Feel UpTown ist das erste Projekt, bei dem wir in großem Maß Keramikmaterialien einsetzen. Bezüglich ihres Ausdruckspotentials haben wir beschlossen, nicht die perfekte Mimese anderer Materialien anzustreben, sondern sie so, wie sie sind, in ihrer Wahrheit als künstliche Materialien zu verwenden. Das scheint uns interessanter zu sein.

 

BIOGRAFIE

Labics ist ein 2002 von Maria Claudia Clemente und Francesco Isidori in Rom gegründetes Architektur- und Stadtplanungsbüro. Der Interessensbereich des Studios, das stets die theoretische Forschung mit dem angewandten Experimentieren vereint, erstreckt sich von der Stadtplanung bis hin zum Entwurf von Innenräumen quer durch verschiedene Maßstäbe und Projektkomplexitätsgrade.

Die gewonnenen Ausschreibungen sind zahlreich, darunter das MAST in Bologna (2006-2013) und Città del Sole in Rom (2007-2016); in letzter Zeit kam die Planung der Wohngebäude im Masterplan „Cascina Merlata“ in Mailand (2018), die Renovierung des Palazzo dei Diamanti in Ferrara (2018) und der Masterplan für den neuen Campus Bio-Medico in Rom (2019) dazu. Labics hat seine Arbeit auch in verschiedenen Ausstellungen gezeigt, darunter die 11.,12. und 14. Architektur-Biennale in Venedig.

2015 hat das Büro Stefania Miscetti ihm die monografische Ausstellung „Structures“ gewidmet, die 2018-2019 im MAXXI in Rom stattfand. 2015 war Labics in Berlin und Mailand mit der Ausstellung „La Città Aperta“ zu sehen. Labics hat verschiedene internationale Preise und Anerkennungen erhalten.

2018 wurde die erste Monografie Structures (Herausgeber Stefano Casciani) im Verlag Park Books herausgegeben.

 

November 2020